Foto: © DiMmEr/fotolia.com Das Bruttoinlandsprodukt neu gedacht Warum der Wohlstandsmesser BIP dringend eine Überholung braucht Gesellschaft 10 Es ist schon erstaunlich, wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP), einem Stehaufmännchen gleich, all den Attacken standgehalten hat, die sich in jüngster Zeit gegen das BIP gerichtet haben. Das eine Mal sei es veraltet gewesen, das andere Mal sei es zumindest durch zusätzliche Indikatoren zu ergänzen. Trotz vielfacher Hetze gegen den bekanntesten Index für Wohlstand hält jede (egal ob positive und negative) BIP-Prognose immer noch ganze Regierungen in Atem. Dass das im Englischen genannte Gross Domestic Product (GDP) nicht frei von Konstruktionsfehlern ist, scheint jedenfalls schon länger offensichtlich. Neben den traditionellen Vorwürfen muss beispielsweise ein nicht unerheblicher Makel angesprochen werden: Nämlich dass das BIP in seiner jetzigen Form häusliche oder ehrenamtliche Arbeit, aus der sich kein Lohnbezug ergibt, in keiner Weise berücksichtigt. Anders formuliert besitzen einige Tätigkeiten des Alltags, etwa Wäschewaschen, Kindererziehung, Freiwilligenarbeit usw., nach unverfälschtestem Wirtschaftsansatz de facto keinen positiven Wert. Die gängige Theorie besagt zudem, dass höhere Einkommen mehr zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, als geringere: Bedeutet dieses Prinzip, dass schlechter bezahlte Herzchirurgen auch weniger zum Gesamtwohlstand der Gesellschaft beitragen als Fußballmillionäre? Laut des nüchternen BIP-Denkansatzes schon, obwohl der gesunde Menschenverstand wahrscheinlich das Gegenteil sagen sollte. Es scheint demzufolge so, als ob das Einkommen (und der entsprechende Beitrag zum BIP) häufig nicht den realen Nutzen des Tuns eines Wirtschaftssubjekts vor Augen haben würde, sondern lediglich das Messbare: nämlich den erwirtschafteten Wert. Schon Robert Kennedy behauptete in einer Rede aus dem Jahre 1968 vor der University of Kansas, dass das Bruttoinlandsprodukt weder Weisheit noch Lernfähigkeit der Menschen, weder Pietät noch Hingabe zum Vaterland messen würde – es würde kurz gesagt alles außer dem messen, was das Leben erst lebenswert machen sollte. Doch je fortschrittlicher die Zeit geworden ist und die Globalisierung an Fahrt aufgenommen hat, desto lauter lässt sich der Ruf nach neuen Wohlstandsindikatoren vernehmen. Diese Indikatoren konzentrieren sich meistens auf einen einzelnen Aspekt – sei es auf den Zufriedenheitsgrad der Menschen, die ökologische Tragbarkeit von Wachstum oder eine Kombination von verschiedenen Faktoren GENUINE PROGRESS INDICATOR GROSS ENVIRONMENTAL SUSTAINABLE DEVELOPMENT INDEX GROSS SUSTAINABLE DEVELOPMENT PRODUCT HAPPY PLANET INDEX HUMAN DEVELOPMENT INDEX INDEX OF SOCIAL HEALTH NATIONALER WOHLFAHRTSINDEX GPI GESDI GSDP HPI HDI ISH NWI – und jedem dieser alternativen Wohlstandsmaße werden gleichzeitig auch Schwachpunkte angelastet. Die Bandbreite der BIP-Alternativen ist groß und erweitert sich ständig: Sie reicht vom kaum messbaren Bruttonationalglück (Gross National Happiness) im himalayischen Königreich Bhutan bis zum Big- Mac-Index, der angibt, wie lange man in einem Land für den gleichen Lohn (den Big-Mac eben) arbeiten muss; vom Stiglitz-Vorschlag aus dem Jahre 2009, der für eine facettenreichere Datenerhebung einsteht und Heimarbeit sowie ehrenamtliches Engagement einschließt, bis zum Human Development Index (HDI), der Lebenserwartung und Bildungsgrad einbezieht. Eine Aufzählung weiterer Indikatoren könnte im Dschungel aus BIP-Gegenkandidaten wie folgt aussehen: ˙ Er umfasst 18 Variablen (z. B. Heimarbeit, ehrenamtliche Arbeitstätigkeit, Ressourcenverbrauch usw.), die vor allem die Lebensqualität ins Zentrum rücken wollen. Damit wird vor allem bezweckt, die Güte von Wirtschaftswachstum und gesellschaftlicher Entwicklung zu messen. Dieser Index befasst sich mit den aus Wirtschaftswachstum und Entwicklung entstehenden Kosten. Damit wird ein Maß für die ökologische Effizienz bei der Schaffung von Zufriedenheit berechnet. Der von den Vereinten Nationen erstellte Index formuliert 7 Indikatoren (z. B. Gleichberechtigung, Einkommensverteilung, Lebenserwartung usw.), die zudem über die Gesundheit, den Bildungsgrad und das Einkommen von Bürgern Aufschluss geben sollen. Er erfasst 16 sozioökonomisch relevante Indikatoren (z. B. Arbeitslosenquote, Schulabbrüche, Krankenversichertenquote usw.) und geht bis zum Jahr 1970 zurück. Dieser Indikator bezieht beispielsweise auch ehrenamtliches Engagement sowie unbezahlte Hausarbeit und Rohstoffverbrauch mit ein, um letzten Endes 21 unterschiedliche Posten zu erfassen. P.T. MAGAZIN 3/2015
P.T. MAGAZIN 3/2015 Dennoch bleibt das ultimative Maß des wirtschaftlichen Wohlstands das (früher Bruttosozialprodukt genannte) Bruttoinlandsprodukt. Aber warum eigentlich? Die Antwort auf das Dilemma ist gleichermaßen einfach wie komplex: Geld regiert nolens volens immer noch die Welt. Die Vielfalt an vorgeschlagenen Wohlstandsmessern – und der fehlende Konsens über „die“ BIP-Alternative schlechthin – macht es dem Bruttoinlandsprodukt letztendlich leicht, sich im Zweifelsfalle durchzusetzen. Unter den herrschenden Bedingungen muss ein Reformprozess zuerst über das BIP selbst verlaufen. Erst wenn diese Reform geglückt ist, kann das BIP mit weiteren Indikatoren ergänzt werden. Der 2-Jahres-Plan Interessanterweise ist die laufende Debatte aber noch nie zu einem ähnlichen Reformvorschlag gelangt, der die mit dem BIP verbundenen Rezessions- und Stagnationsängste abfängt und den Wohlstandsindex insgesamt von seinem Spukpotenzial befreit. Im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion über „Wachstumsrücknahme“ oder „Entwachstum“ (engl.: degrowth), unter dem die Reduzierung des heutigen Konsum- und Produktionswachstumszwangs vor dem Hintergrund eines Nachhaltigkeitsgedankens zu verstehen ist, ist eine zugegebenermaßen einfache, dennoch besonders effektive Korrekturmaßnahme vernachlässigt worden: Diese sieht vor, das Bruttoinlandsprodukt in postindustriellen Ländern nur jedes zweite Jahr zu berechnen. Wenn man bedenkt, dass die Weltbank schon heute zwischen Länderkategorien auf Basis des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf unterscheidet, ließen sich Länderkategorie Geringeinkommensländer (low-income countries) Mitteleinkommensländer (middle-income countries) Hocheinkommensländer (high-income countries) Veränderung des BIP zum Vorjahr 6% 4% 2% 0% -2% -4% -6% 1,5% 0,7% 2003 Weltkarte mit Höhe des nominalen BIPs in Mrd. US$ (Stand: 2012) jene hochentwickelten Nationen, für die eine BIP-Berechnung im Zweijahrestakt vorzusehen wäre, problemlos ausmachen. 2,6% 2,2% 2004 Bruttonationaleinkommen pro Kopf (X) x ≤ 1.045 USD 1.045 USD < x < 12.746 USD 2,2% EU 1.7% 2005 x ≥ 12.746 USD Eine solche Verfahrensweise würde den unwiderlegbaren Zustand, nach dem Hocheinkommensländer aufgrund ihres ohnehin ausgeprägten Wohlstandsniveaus keine allzu hohen Steigerungsraten erwarten sollten, auch statistisch reflektieren und somit den Drang nach BIP-Wachstumsschüben in postindustriellen Nationen mildern. Die sich daraus ergebenden Vorteile würden sowohl für wachstumsstarke als auch für kriselnde 3.4% 3.3% Euro-Zone 2006 3.2% 3% 2007 Länder gelten: Erstere würden nämlich unvermindert weiterwachsen, allerdings würde sich deren Wachstumsrate jetzt auf einer Zweijahresbasis berechnen. Die zweiten, nämlich jene von Wachstumseinbrüchen geplagten Länder, würden andererseits vom positiven Effekt profitieren, dass sie die internationalen Finanzmärkte nicht mehr zeitnah mit einer Flut negativer Konjunkturindikatoren überrumpeln würden und sich damit dramatischen Kursschwankungen sowie Panikszenarien aussetzen. Gerade solche Nationen hätten mehr Zeit, positive Wirtschaftsergebnisse vorzulegen, ohne dass sie hastig verabschiedete Reformmaßnahmen treffen müssen, die häufig nicht für den erhofften BIP-Anstieg, aber fast immer für Wirtschaftsschocks sorgen. Generell würde sich bei allen vom Bruttoinlandsprodukt abgeleiteten Wirtschaftsindikatoren wie Neuverschuldung, Inflationsrate oder Arbeitslosenquote substanziell nichts ändern, sie müssten jetzt nur auf einer Zweijahresbasis berechnet werden. ˘ 0.4% Die Statistik zeigt das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Europäischen Union und der Euro-Zone von 2003 bis 2013. Im Jahr 2013 wuchs das reale BIP in der EU um 0,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr; in der Euro-Zone sank es um 0,4 Prozent. 0.4% 2008 -4.5% -4.5% 2009 2% 1.9% 2010 1.6% 1.6% 2011 -0,4% -0,7% 2012 0,1% -0,4% 2013 Quelle: Eurostat/ Statista 2015 Quite vivid blur/ Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)
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