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PT-Magazin - Ausgabe 1•2 2022

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PT-Magazin für Wirtschaft und Gesellschaft Die Top-Themen: • Nachdenken über die innere Stimme - Hanspeter Georgi warnt vor Fehlentscheidungen • Gelebte Wertschätzung - Josef Kainz über die Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns • Unternehmen von Fesseln befreien - Hans-Jürgen Friedrich über Leistung und Verantwortung • Konflikte und externe Unterstützung - Bernhard Kuntz: Manchmal geht es ohne Anwalt nicht

14 Gesellschaft 15

14 Gesellschaft 15 allerdings ebenfalls in den USA ausgebildet und erhielt den Preis ebenfalls als amerikanischer Staatsbürger. Die Fields-Medaille und der Abelpreis, die zwei höchsten Auszeichnungen in der Mathematik, sind bisher an keinen einzigen chinesischen Mathematiker verliehen worden. Die meisten bekannten chinesisch-stämmigen Mathematiker des 20. Jahrhunderts lebten den allergrößten oder gar gesamten Teil ihres mathematischen Lebens im westlichen Ausland. Die einzigen Ausnahmen waren der Zahlentheoretiker Chen Jingrun und sein Entdecker und Lehrer Hua Luogeng. Dass die Chinesen dennoch über ein großes mathematisches Potential verfügen, zeigt, dass sie an der seit 1959 jährlich stattfindenden Internationalen Schüler Mathematik-Olympiade die meisten Mannschaftswertungen gewannen, das erste Mal jedoch erst 1989, seitdem gingen aber fast zwei Drittel aller Teampreise nach China! Zum Vergleich: Die Sowjetunion, ebenfalls keine offene Gesellschaft (und auch nicht ihr Nachfolgerstaat Russland), brachte während ihrer 69-jährigen Geschichte zehn Physik- und einen Chemienobelpreisträger hervor, die alle außer einer Person nahezu ihr gesamtes Leben in der Sowjetunion bzw. Russland verbrachten. Dazu kommen sechs sowjetische und drei russische Fields- Medaillen-Träger in Mathematik. Die totalitäre Sowjetunion zeigte also durchaus eine beachtenswerte Leistung auf dem Gebiet der Naturwissenschaften © WIKIMEDIA, CC-BY 4.0 Eine Weltraumrakete LM-5 auf dem Weltraumbahnhof Wenchang und Mathematik, was die These von der Abhängigkeit wissenschaftlicher Spitzenleistungen vom Status der offenen Gesellschaft, in der sie erreicht werden, zu hinterfragen scheint. Doch scheiterte die Sowjetunion nicht zuletzt an der wissenschaftlichen und schließlich technologischen Unterlegenheit ihres Systems zum Westen? Betrachten wir desweiteren eine Kultur genauer, die einst die Blüte der Wissenschaften darstellte: In der Zeit von 800 bis 1’250 n. Chr. waren die islamischen Wissenschaftler weltweit konkurrenzlos. Doch dann entwickelte sich ab dem frühen 13. Jahrhundert innerhalb der arabischen Gesellschaften eine intellektuelle Abschottung. Die islamischen Religionsführer und Machthaber wurden in ihren Ansichten zunehmend rigoros und wissenschaftsfeindlich, das Denken dogmatisierte und die Gesellschaften verschlossen sich. Vernunft und Verstand mussten sich dem Glauben unterordnen, wichtige Technologien wie die Druckerpresse blieben aus religiösen Gründen verboten. So stammen bis heute gerade einmal zwei wissenschaftliche Nobelpreisträger aus dem islamischen Kulturkreis: Abdus Salam aus Pakistan (Nobelpreis für Physik, 1979) und Ahmed Zewail aus Ägypten (Nobelpreis für Chemie, 1999). Beide haben allerdings ebenfalls den größten Teil ihrer Ausbildung und wissenschaftlichen Karriere im Westen verbracht. Einen ausschließlich in islamischen Ländern ausgebildeten und forschenden Nobelpreisträger in Physik, Chemie oder Medizin gibt es bislang nicht. Dagegen gab es allein in den letzten 20 Jahren sechs israelische Chemie- Nobelpreisträger (die israelische Bevölkerung beträgt ca. 8 Mio., die muslimische mehr als 1.8 Milliarden Menschen)! So scheinen auch die sowjetische und arabische Gesellschaft die These vom Zusammenhang zwischen einer offenen Gesellschaft und der Qualität ihrer Wissenschaften zu bestätigen (wenn auch im ersten Fall etwas weniger eindeutig). Um den bisherigen geringen Beitrag Chinas zur Weltwissenschaft zu erklären, müssen wir die chinesische Vergangenheit etwas näher betrachten. Die allerlängste Zeit seiner jahrtausendelangen Geschichte wurde China von einem gewaltigen, streng hierarchisch gegliederten Beamtenapparat beherrscht. Fast alle Gelehrten waren im PT-MAGAZIN 1 • 2 2022 PT-MAGAZIN 1 • 2 2022 Staatsdienst, außerhalb der Bürokratie gab es keine nennenswerte intellektuelle Elite. Die Beamten genossen, solange sie loyal blieben, den zuverlässigen Schutz des Staates und lebenslange finanzielle Sicherheit. Bis ins 19. Jahrhundert blieb die gesellschaftliche Struktur und Ordnung des Landes nahezu unverändert. Der Preis dieser Stabilität war intellektuelle Stagnation. Der hohe Grad an staatlicher und sozialer Ordnung ließ Veränderungen, Vorschläge für Verbesserungen und neue Ideen nicht sehr gefragt sein, Anreize, neue Kenntnisse zu erwerben, gab es kaum. Dass ein Beamter experimentierte oder gar bestehendes Wissen hinterfragte, kam daher so gut wie nie vor. Wer über sein Tagespensum hinaus noch intellektuelle Impulse verspürte, versuchte sich eher an der hoch angesehenen Dichtkunst. Dass chinesische Beamte kaum kreativ oder neugierig waren, lag auch an dem strengen Auswahlverfahren für diejenigen, die Teil dieser gesellschaftlichen Oberschicht werden wollten. In mehrtägigen Examina, den sogenannten kējǔ, wurde hauptsächlich die Kenntnis der Vier Bücher und der Fünf Klassiker des Konfuzianismus abgefragt. Um zu bestehen, mussten die Kandidaten in harten Jahren des Studiums über 400.000 Zeichen lange Texte auswendig lernen. Die Beamtenkaste bestand also aus Menschen, die sich vor allem durch Fleiß und Konformismus hervorgetan hatten und weit weniger durch Innovationlust und Einfallsreichtum. Ende des 16. Jahrhunderts brachten Jesuiten die abendländische Mathematik nach China. Das wohl einflussreichste antike Buch der abendländischen Mathematik, die „Elemente“ von Euklid, wurde 1607 ins Chinesische übersetzt. Es weckte schnell das Interesse der chinesischen Mathematiker; die einheimische mathematische Entwicklung in China brach daraufhin fast vollständig zusammen. Von nun an näherte sich die chinesische Mathematik der europäischen an, doch war der Vorsprung der Europäer immens und die pädagogische Anpassung in China zunächst eher langsam. Im 19. Jahrhundert kam die Zeit der chinesischen Stabilität durch den wachsenden Einfluss Europas zu einem plötzlichen Stopp, und für das Land der Mitte begann eine 150 Jahre währende Periode des Leidens, als es einer vergleichsweise kleinen Gruppe englischer Soldaten im Opiumkrieg ab 1839 gelang, die technologische und militärische Unterlegenheit Chinas im Vergleich zu Europa für ausländische wie einheimische Beobachter unübersehbar werden zu lassen. Es folgten kolonialistische Erniedrigung des Landes, seine Eroberung durch Japan, Bürgerkrieg und kommunistische Schreckensherrschaft. Erst seit ca. 30 Jahren befindet sich das Land in einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwung mitsamt technologischem Ausbau. Dieser läuft allerdings mit einer Geschwindigkeit ab, die auch Beobachtern im Westen den Atem stocken lässt. Dabei wird gerade in den letzten Jahren immer klarer: Auch und gerade in der technologischen Leistungsfähigkeit hat China im Vergleich zum Westen deutlich aufgeholt und sich vom traditionellen „Copy-paste“-Land zu einem den USA und europäischen Ländern auf vielen Gebieten ebenbürtigen globalen Player bei der Entwicklung zukünftiger Technologien entwickelt. In der Wissenschaft bzw. Grundlagenforschung hat China bisher allerdings keinen allzu großen Beitrag geleistet. Dennoch gilt das Land als zukünftige technologische Supermacht. Folgen hier bald die chinesischen Nobelpreise und Fields-Medaillen, und zeigt sich damit, dass auch geschlossene Gesellschaften Spitzenleistungen auf den verschiedenen Gebieten der Naturwissenschaften hervorbringen können? Oder vermag auch China das historische Muster nicht zu durchbrechen, dass die beste Wissenschaft in offenen Gesellschaften geleistet wird? Und hat sich so der technologische Fortschritt vom wissenschaftlichen abgekoppelt aufgrund der Tatsache, dass neue wissenschaftliche Einsichten nahezu instant and global öffentlich gemacht werden? Bisher sieht es eher so aus, dass die erste Frage eher mit „Nein“ und die letzten beiden mit „Ja“ beantwortet werden müssen. • Über den Autor Lars Jaeger hat Physik, Mathematik, Philosophie und Geschichte studiert und mehrere Jahre in der Quantenphysik sowie Chaostheorie geforscht. Er lebt in der Nähe von Zürich, wo er zwei eigene Unternehmen aufgebaut hat, die institutionelle Finanzanleger beraten. 2021 erschien sein neuestes Buch «Wege aus der Klimakatastrophe» im Springer Verlag. w w w . h e i m e r l - b a u . d e Software & Hardware Engineering Technische Fachplanung, Entwicklung und Produktion aus einer Hand. NEU! 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