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PT-Magazin 4 2021

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Offizielles Magazin der Oskar-Patzelt-Stiftung. Titelthema: Wer wagt, gewinnt! Verfassung und Nation: Warum sich eine Beschäftigung mit der Reichsgründung heute lohnt. Napoleons Hosen: Ein Pathologe zum 200. Todestag Napoleons. Ab ins Rampenlicht: 667 Unternehmen erreichten die Jurystufe 2021. Bullshit Rules brechen: Julien Backhaus hinterfragt Leit- und Lehrsätze.

08 Gesellschaft bildeten

08 Gesellschaft bildeten die Millionen der Bevölkerung den Nationalstaat; sie partizipierten, fühlten mit und zeigten sich im neuen Nationalstolz sogar bereit, freudig für ihr Land zu sterben. So wurde auch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs möglich. des politischen Spektrums erfasste die Massenpolitisierung auch die konservativen und reaktionären Frauen, die sich im Namen der deutschen Nation den Müttern, Hausfrauen, Landfrauen, den Kolonien oder dem Armenwesen widmeten. In nationalistischen Vereinen wie dem Flottenverein gelang es ihnen häufig, eigene Frauenabteilungen einzurichten. In allen Industrieländern wurden mit der Massenpolitisierung auch die Exklusionsbewegungen gestärkt. Das Konzept von Nation bedeutete schließlich die Exklusion aller, die nicht dazu gehören. Häufig zeigte sich die exkludierende Bewegung als Antisemitismus, Rassismus (in den USA erreichte das Lynchen um 1900 einen Höhepunkt) oder Militarismus, aber auch als Misogynie, die sich nun in Vereinen organisierte und einer breiten Publikationstätigkeit frönte. Doch die Lage war mehrdeutig: Das deutsche Bürgertum etwa, die Wissenschaft, das Denken, die Presse, die Politik – sie speisten sich nicht zuletzt aus jüdischen Wurzeln und jüdischen Milieus. Der Normalfall in den Städten und auf dem Land war – trotz des europaweiten Antisemitismus – die Inklusion der Jüdinnen und Juden. Es gab immer auch einen starken progressiven Nationalismus, wie ihn etwa der Liberale Friedrich Naumann oder die Politikerin Gertrud Bäumer vertraten. Die allermeisten Deutschen sahen die Reichsgründung und die nationale Einheit zunehmend positiv. Der Deutsch- Französische Krieg hatte das Machtverhältnis in Europa umgekehrt: Anders als © www.wikipedia.org früher galt nicht mehr Frankreich als die dominierende Kraft und potente Militärmacht auf dem Kontinent, sondern Deutschland. Der anschwellende Bismarck-Kult zeugt von der Zustimmung in der Bevölkerung. Der Kanzler galt als der Schöpfer der Einheit – nicht der Monarch Wilhelm I. Und so verwundert es nicht, dass die zahlreichen Bismarck-Säulen und Bismarck-Denkmäler zur Feier der Einheit sich zumeist Bürgerinitiativen verdankten, während Wilhelm II. mit seinem ikonografischen Programm von Reiterbildern „Wilhelms des Großen“ vergeblich versuchte, seinen Großvater als entscheidende Figur der Reichseinigung darzustellen. Doch die Einheit Deutschlands war nicht nur ein emotionales Projekt, das die chauvinistischen Emotionen hochtrieb. Sie war auch die Voraussetzung für den Eintritt in die Hochmoderne. Sie ermöglichte den wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaftlichen Aufstieg des Landes. Der Nationalismus mit seiner Massenpolitisierung machte die Nationalstaaten zu starken, blühenden Ländern, aber auch zu schlagkräftigen, brutalen Kampfmaschinen. In diese Zeit fiel daher auch der Hochimperialismus: Die mächtigen Nationalstaaten überfielen systematisch andere Kontinente, raubten sie aus, unterdrückten oder ermordeten die fremden Menschen. Der nationalistische Wettkampf der Staaten befeuerte diese erste Globalisierung. Der Staat war nicht länger eine Angelegenheit von Eliten und eben keine Fürstenaristokratie. Vielmehr Reformen Die Staatenkonkurrenz und die Globalisierung führten aber auch zu einem fruchtbaren Austausch. Das Kaiserreich wurde schnell neben Großbritannien und den USA zu einer der führenden Wirtschaftsnationen, seine Universitäten galten vielfach als die besten der Welt, und als moderner Sozialstaat spielte die junge Nation eine Vorreiterrolle. Ohne die Einheit wäre das nicht möglich gewesen. Das Wirtschaftswachstum bildete in allen Industriestaaten eine entscheidende Grundlage für die Massenpolitisierung. Die florierende Ökonomie erst ermöglichte viele der partizipativen Praktiken, denn der Wohlstandsanstieg kam trotz aller Wirtschaftskrisen letztlich allen zugute, und die Reallöhne stiegen gerade auch für die Ärmsten. Hungersnöte, die es überall in Kontinentaleuropa bis zur Jahrhundertmitte gegeben hatte, waren undenkbar geworden. Die Arbeiter hatten zunehmend Geld, sich eine Zeitung zu kaufen und abends beim Bier und in den aufblühenden Parteien über Politik zu diskutieren. Die Arbeitszeit sank beträchtlich und wurde 1900 gesetzlich auf zehn Stunden pro Tag festgelegt. Frauen profitierten insgesamt nicht so stark von den Errungenschaften. Arbeiterinnen mussten abends den Haushalt erledigen, ein Großteil der Berufe blieb Frauen verschlossen, und sie verdienten insgesamt bei gleicher Arbeit weit weniger als die Männer. Doch kamen auch ihnen die Veränderungen und Reformen allmählich zugute, nicht zuletzt, weil Frauenrechtlerinnen für bessere Löhne, geringere Arbeitszeiten oder größere Bildungschancen kämpften. Der wachsende Wohlstand wurde zu einer der stärksten Inklusionskräfte. Hätten früher die vielen im „Mangel für Magen, Herz und Geist“ gelebt, schrieb die „Vossische Zeitung“, habe das 19. Jahrhundert als das „soziale Jahrhundert“ die Welt zum Guten verändert. Bismarcks Sozialgesetzgebung ermöglichte eine PT-MAGAZIN 4 2021

09 Über die Autorin Grundversorgung der Bevölkerung, die bisher undenkbar gewesen war. Die Menschen entwickelten ein starkes Gefühl für soziale Rechte. Überall entstanden Vereine: um die Armut zu bekämpfen, die Frauen zu befreien, Prostitution und Armut in die Schranken zu weisen, Hygiene und Gesundheit zu befördern – die Welt zu reformieren. Die Reformbewegung erwies sich als großer internationaler und transnationaler Aufbruch, und weltweit zeigte das reformerische Engagement die Stärke der Zivilgesellschaft. Die Frauen bildeten einen entscheidenden Teil dieses Aufbruchs. Zwar waren sie noch weitgehend vom parlamentarischen Leben ausgeschlossen, jedoch wurden viele von ihnen zu Müttern des Sozialstaats, einer der wichtigsten Säulen der Demokratie. Zu diesen Pionierinnen gehörten etwa die Sozialdemokratin Marie Juchacz, die Liberale Alice Salomon oder die Katholikin Hedwig Dransfeld. 1894 schufen sich die bürgerlichen und progressiven Verbünde mit dem Bund Deutscher Frauenvereine einen Dachverband, dem in seinen Hochzeiten 500.000 bis eine Million Mitglieder angehörten. Er forderte schon ab 1902 das Frauenwahlrecht. 1904 wurde in Berlin der erste internationale Verband für das Frauenstimmrecht gegründet, die International Woman Suffrage Alliance. Die anbrechende Emanzipation der Frauen war womöglich der größte Inklusionsprozess des Kaiserreichs. Dieser Text erschien zuerst in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ 1–2/2021). Er ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Autorin: Hedwig Richter für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de. Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autorin teilen. Prof. Dr. Hedwig Richter Die populäre und mehrfach ausgezeichnete Historikerin Prof. Dr. Hedwig Richter lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München und schreibt u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT, die taz und den Spiegel. PT-MAGAZIN 4 2021 Schluss Ein Blick auf die Reichsgründung kann die integrierende Kraft von Verfassung und von Nation verdeutlichen. Dabei ist es wichtig, die Inklusionsprozesse nicht ohne ihre Schattenseiten zu denken: Der Nationalismus wurde zumindest teilweise aggressiver und exklusiver, die Emanzipation der Frauen provozierte einen scharfen Antifeminismus, die Egalität der Bürger in den westlichen Staaten beförderte eine Missachtung der Menschen in den Kolonien. Und doch schuf – die durch eine Verfassung begründete – Nation die Voraussetzungen für Demokratisierungsprozesse, indem sie die Idee der Gleichheit und der Staatsbürgerschaft implementierte. ó Inspired by temperature Hochgenau temperieren in Forschung und Industrie Wir sind ein führender Anbieter von hochgenauen Temperierlösungen für Forschung und Industrie. Unsere Produkte sorgen weltweit für präzise Temperaturen von -125 bis +425 °C in Laboratorien, Technikumsanlagen und Produktionsverfahren. Mehr Informationen: www.huber-online.com

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