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PT-Magazin 06 2020

Offizielles Magazin der Oskar-Patzelt-Stiftung. Titelthema: Ausgezeichnet.

76 Wirtschaft

76 Wirtschaft Erfahrungsaustausch am laufenden Band: Smarttexiler Workshop in Chemnitz © Thomas Heinick, SmartTex-Netzwerk Lautsprecher im Hemd, Sprengstoff- Weimarer SmartTex-Netzwerk will europäischer Dienstleister werden Kaum ein Wertschöpfungsverbund in der Textilbranche besteht länger und ist internationaler als das von Weimar aus gemanagte SmartTex-Netzwerk (www.smartex-netzwerk.de). Vom Freistaat Thüringen gefördert, begleitet es seit einem Jahrzehnt Produktideen rund um die potenzialstarke Materialklasse Textilelektronik in die Märkte und will jetzt zu neuen Ufern aufbrechen. Für das PT-Magazin befragte Hans-Werner Oertel (HWO) den Gründer Klaus Richter: PT-Magazin: Intelligente Textilien: Seit vielen Jahren ist davon die Rede, doch Anwendungen lassen wohl noch auf sich warten? Klaus Richter: Heizende Sportbekleidung wie die unseres Netzwerkmitglieds WarmX aus Apolda, Streulicht auf Jacken oder textile Sensorfäden für die Reha sind längst am Markt angekommen. Sie haben aber kaum Schlagzeilenpotenzial. Wesentlich spannender im Sinne von Innovations-Ermöglicher sind Smart Textiles für Industrieanwendungen, beispielsweise an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine oder zur Überwachung von Bauteilen. In wenigen Jahren wird es flexible organische Textil-Solarzellen mit einem Wirkungsgrad von gut fünf Prozent „Made in Mitteldeutschland“ geben, an denen wir gerade mitarbeiten. Damit könnten auf Markisen, Fassaden, Stadiondächern usw. Strom gewonnen werden. PT-Magazin: Ihr Netzwerk knüpft von Thüringen aus bis in die Niederlande und Slowenien hinein die Fäden mit welchem Ziel? Klaus Richter: Wir entwickeln gemeinsam mit der Wissenschaft Textilmaterialien zur Unterstützung technischer Anwendungen sowie textile Lösungen für Elektronik, Bio-Sensorik, Life Science, Energie und Automotive. Das Netzwerk ist kein Lobbyverband, sondern ein wertschöpfungsorientierter Zusammenschluss von Mittelständlern und Wissenschaftseinrichtungen aus Textil-, Materialwissenschaft und Elektronik mit internationaler Ausrichtung. 65 Mitglieder aus sieben europäischen Ländern setzen für den Umsatz von morgen Produktideen gemeinsam um. Mit solchen Innovationen wird der Mittelstand weniger anfällig gegenüber der Konkurrenz beispielsweise aus Asien. Seit unserem Bestehen haben wir zahlreiche marktbezogene Produkte angeschoben: Die oben genannte textile Solarzelle, thermoelektrische Textilien, aktorische Systeme, textilsensorische Herzsignalerfassung, Kompressionsmaterialien, funktionale Oberflächen wie Antifouling-Basaltgestricke und vieles andere mehr. PT-Magazin: Welche Projekte gibt es aktuell? Klaus Richter: Einer unserer Themenschwerpunkte richtet sich beispielsweise auf die Entwicklung bedarfsgerechter innovativer Assistenzsysteme für Menschen mit Handicaps. Dabei geht es u. a. um Bekleidung mit Sensoren bzw. Aktoren, Textilien mit Memofunktion, die bei motorischen Störungen die Greiffunktion unterstützen, oder auch um die Klimatisierung von Rollstühlen und Handschuhen. Ich greife mal zwei Vorhaben heraus, an denen auch meine Firma Intelligente Textile Produkte GmbH (ITP) mitarbeitet: den textilen Lautsprecher und ein intelligentes Wischtuch für die PT-MAGAZIN 6 2020

77 Visionär und Macher: Netzwerkgründer Klaus Richter Elektrisch leitend: gestickte Leiterplatte © Thomas Heinick, SmartTex-Netzwerk © Thomas Heinick, SmartTex-Netzwerk Schnüffler in der Hand Info Die im April ausgefallene erste internationale Smart Textiles-Konferenz InMotion2021 findet voraussichtlich am 13.-14. April 2021 in Weimar statt. PT-MAGAZIN 6 2020 Rauschgift- oder Sprengstoffdetektion für den Zoll. Der textile Stereo-Lautsprecher kann beispielsweise Freizeithemden oder Berufsbekleidung zum Sprechen bringen (Sprach- oder Musikausgabe für Handys) oder – eingebaut im Dachhimmel von PKW – sitzplatzbezogene Informationen nur für den Fahrer ermöglichen. Im zweiten Projekt soll Textilelektronik Nanometer große Partikel von verbotenen Substanzen aufspüren und in Echtzeit einen Computer melden. Das erspart beispielsweise bei Fluggast-Zugangskontrollen bei Abstrichproben mit einem Spezialtuch, das dann im Labor nebenan ausgewertet wird, lästige Warterei für den Fluggast und die Beamten. PT-Magazin: Deutschland forscht und entwickelt, aber viele Innovationen kommen aus den USA und Asien. Warum eigentlich sind andere oftmals mit Produktion und Verkauf schneller? Klaus Richter: In der Tat ist Deutschland seit über 20 Jahren forschungs- und entwicklungsseitig mit dem Großthema Smart Textiles befasst, wir gehören damit weltweit zu den Pionieren. Doch andererseits verlieren wir oft nach dem Prototypstadium an Tempo, genau hier sind andere schneller. Die Grundideen sind zumeist hervorragend, doch der technische Bereich als unser potenzieller Hauptabnehmer vertraut oft lieber auf konventionelle Lösungen. Mit anderen Worten: Es fehlen entsprechende Anreizsysteme, um schnell und schlagkräftig entsprechende Produkte in die Märkte zu bringen. PT-Magazin: Uns alle hat Covid-19 im Griff. Was bedeutet die Pandemie für das Netzwerk? Klaus Richter: Gleich zu Beginn der Krise konnten wir zeigen, was wir eigentlich wollen: Unsere Kapazitäten bündeln für neue Produkte. In diesem Fall waren das zwar „nur“ Mund- und Nasenschutzmasken, deren Produktions- und Zulieferkette wir nach Konzept mit Power und Flexibilität binnen weniger Wochen organisiert haben. Bei dem Herstellerzusammenschluss musste auch die Expertise anderer Branchen mit ins Boot geholt werden, so für den 3D-Druck für Ventile oder für die antimikrobielle Beschichtung der Stoffe. Bei Bedarf könnten wir bei einer nächsten Welle dieses Netzwerk binnen Stunden wieder aktivieren… Über den Autor Technologie-Journalist Hans-Werner Oertel fasst komplizierte technische Sachverhalte verständlich in 20 Zeilen zusammen und gründete vor 20 Jahren InnoMedia®, ein Netzwerk freier Kompetenzen rund um Journalismus, PR, Marketing, Grafik und Internet. Die letzte Frage berührt die Netzwerkzukunft als… Klaus Richter: … Systemanbieter. Wir haben festgestellt, dass wir in Europa Aberdutzende „Könige in der Nische“ haben, also Firmen und Einrichtung mit enormer Tiefenkompetenz und Spezialisierung. Da Zeit bekanntlich Geld ist und wir mit Smart Textiles unter internationalem Wettbewerbsdruck stehen, wollen wir als Angebot auf der Europaebene ein Dienstleistungssystem aufbauen, um den Firmen für die Produktion von großen Stückzahlen Know-how und Technik zur Verfügung stellen zu können. Das scheint mir ein logischer Schritt zu sein, um aus unserem Netzwerk, die in Phase eins vor allem Wissens- und Erfahrungsplattform für kooperativen Erfolg war, im nächsten Zeitabschnitt tatkräftiger zur beschleunigten Entwicklung von Innovationen beizutragen. ó

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