Jahr | hun | dert | ver | ge | hen, Gesellschaft 06 In einem Aufsatz des Philologen Robert Mildenberger heißt es: „Ein Kulturverband wird durch einen gemeinsamen, über die persönliche Lebensgrenze der Kulturträger räumlich und zeitlich hinausgehenden, verbindlichen geistigen Besitz konstituiert. Bildung bedeutet die Fähigkeit, an diesem Besitz selbständig und unmittelbar teilzuhaben ... In dem Augenblick, in dem wir uns von unserer Hochsprache verabschieden, beginnen Kant und Des Knaben Wunderhorn zu verstummen.“ Um die Schülerinnen und Schüler davor zu bewahren, sich mit einem Wort abmühen zu müssen, unter dem sie sich vermeintlich nichts mehr vorstellen können, werden in den Klassikerbearbeitungen für den Deutschunterricht Wörter wie „schalkhaft“ oder „durchtrieben“ ersetzt durch „lustig“ oder „pfiffig“, und eine nicht alltägliche Wendung wie „daß dergleichen in dieser Stadt ... nicht angeht“ wird umgeschrieben zu „daß so etwas in dieser Stadt ... nicht möglich ist“. So geschehen in Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“. Selbst das Wort „demütig“ wird eliminiert und, man möchte es nicht glauben, ersetzt durch „unterwürfig“. Der Abschied von der Hochsprache beginnt mit der Verabschiedung von ihren Wörtern, die einhergeht mit dem Verlust von Humanem. Ob in riesigen Metallbuchstaben an Großmarktfassaden oder als Massenwarenetikett an der Tür des Friseursalons – landauf, landab lesen wir den Gruß „Herzlich Willkommen“. Er ist nach der traditionellen Rechtsschreibung ebenso falsch geschrieben wie nach der reformierten. Wenn das Wort „willkommen“ mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben wird, ohne daß es am Satzanfang oder für sich allein steht, ist es ein Substantiv, dem man ein „das“ voranstellen kann. „Herzlich (das) Willkommen“ ist auf deutsch aber nicht denkbar. Deutsch wäre „Herzliches Willkommen“ oder „Herzlich willkommen“, da in dieser Verbindung „willkommen“ ein Adjektiv ist und Adjektive klein geschrieben werden. Das falsch geschriebene „Herzlich Willkommen“ führt nicht nur Schulkinder in die orthographische Irre, auf der Internetseite eines Bad Lobensteiner Hotels war am 5.7.2014 zu lesen: „... wir würden uns freuen, Sie herzlich Willkommen zu heißen“. Nach 20 Jahren neuer Rechtschreibungen ist das Sprachgefühl, die intuitive, vom Regelwissen unabhängige Sprachkompetenz, bei einem Großteil der Bevölkerung ausgehebelt. Statt „recht haben“ galt von 1996 bis 2004/2006 als allein richtig „Recht haben“. Heute gelten als richtig schalk| haft, (eulenspiegelhaft, neckisch) „recht haben“ und „Recht haben“. Der Satz „du hast nicht Recht“ wäre aber kein muttersprachliches Deutsch (wer sagt schon „du hast nicht Freude“), auf deutsch könnte der Satz nur lauten „Du hast kein Recht ...“ oder „Du hast nicht das Recht ...“, was in beiden Fällen jedoch etwas anderes bedeuten würde als „Du hast nicht recht“. Die „Deregulierung der Herrschaftssprache“, durch die die Gesellschaft dereguliert werden sollte, ist, was die Sprache betrifft, gelungen. Der Rechtschreibexperte Peter Eisenberg sagte vor kurzem in einem Interview der Zeitung „Sprachnachrichten“: „Die sog. Orthografiereform war nicht von der Sache her, sie war politisch motiviert. An der Rechtschreibung selbst gab es ja ... kaum etwas auszusetzen.“ Die Mehrheit der Deutschsprechenden hat resigniert oder dämmert in einer Art Rechtschreibdemenz vor sich hin. Was nicht heißt, das Bildungsniveau könne nicht weiter gesenkt werden. Auf einer Sitzung des Rates für deutsche Rechtschreibung wurde allen Ernstes erwogen, das Wort „rangieren“ mit „sch“ zu schreiben. Zum Glück hätten sich „die Schweizer und Österreicher ... hinreichend dagegen gewehrt“. Die reformpädagogische Methode „Lesen durch schreiben“, derzufolge die Erst- und Zweitklässler nur nach Gehör schreiben lernen sollen, ohne daß Lehrer und Eltern die Fehler korrigieren, führe, so der Schweizer Sprachwissenschaftler Rudolf Wachter, zu „orthographischer Verwahrlosung“. Die Tochter des brandenburgischen CDU-Abgeordneten Henryk Wichmann, eine Viertklässlerin, durch| trie| ben, (gerissen, verschlagen) hatte ihrem Vater geschrieben: „Lieba Fata ales gute zum Fatatag. Ich hab dich lib.“ Wie die Zeitung „Deutsche Sprachwelt“ meldete, besucht das Kind jetzt eine Privatschule. Die Schreibschrift, die Grundlage für eine persönliche Handschrift, für überflüssig und nicht mehr unterrichtenswert zu erklären, zeugt von einem Kulturverlust, der die Menschenwürde tangiert, und der Sprachfeminismus erläßt bereits Vorschriften, die, gelangten sie zu allgemeiner Geltung, alle bisherigen Versuche ideologischer Sprachzersetzung in den Schatten stellen würden. Kant und Des Knaben Wunderhorn würden dann nicht zu verstummen beginnen, sondern zu lallen.
das Schon vor einigen Jahren erfuhr die Öffentlichkeit aus berufenem Mund, die Kultusminister wüßten längst, daß die Rechtschreibreform falsch war, aber aus Gründen der Staatsräson sei sie nicht zurückgenommen worden. Solange das Argument „Staatsräson“ davor schützt, ein Jahrhundertvergehen an der Sprache, nämlich die teilweise Rücknahme von zweihundert Jahren differenzierender Orthographieentwicklung, offiziell als ein Jahrhundertvergehen anerkennen und die nötigen Schlüsse daraus ziehen zu müssen, wird das Sprachniveau schon deshalb weiter sinken, weil die Sprache nicht als ein ebenso hohes Gut gilt wie die Staatsräson. Das prägt. ■ Reiner Kunze Der Text wurde zuerst auf www.deutscherarbeitgeberverband.de veröffentlicht und hier mit freundlicher Genehmigung republiziert. Kontaktadresse: info@ deutscherarbeitgeberverband.de Nach | richt , die -en Über den Autor Reiner Kunze, geboren 1933 in Oelsnitz/Erzgebirge, ist ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Er gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart. Nach Erscheinen seines ersten Lyrikbandes „Vögel über dem Tau“ (1959) stieß er zunehmend auf Widerstände seitens der SED-Führung und konnte gegen Ende der 60er Jahre nur noch unter erschwerten Bedingungen in der DDR publizieren. Sein Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ (1976), worin Kunze das DDR-System einer scharfen Kritik unterzog, führte zum Ausschluss aus dem DDR- Schriftstellerverband. 1977 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. Darüber hinaus tritt Reiner Kunze als prominenter Kritiker der Rechtschreibreform von 1996 in Erscheinung. Er gehört zu den Unterzeichnern des Frankfurter Appells (2004), einem Aufruf bekannter Persönlichkeiten gegen die Reform. In zahlreichen Artikeln und vor allem seiner Denkschrift „Die Aura der Wörter“ bezieht er eindeutig Stellung zu den sprachschädigenden Folgen der Rechtschreibreform. Das ende der kunst Spra | che, die; -, n Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn, du darfst nicht die sonne besingen Wort, das; -es, Plur. Wörter, Worte de | mü | tig, (ergeben, kniefällig) Recht, das (Gesetz, Rechtsordnung) Recht | schrei | bung De |regu|lie|rung (Abbau von Regeln, Vorschriften) Die sonne ist nicht wichtig Der auerhahn nahm die sonne aus seinem gedicht Du bist ein künstler, sagte die eule zum auerhahn Und es war schön finster. Reiner Kunze
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