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P.T. MAGAZIN 01/2011

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Magazin für Wirtschaft und Gesellschaft. Offizielles Informationsmagazin des Wettbewerbs "Großer Preis des Mittelstandes" der Oskar-Patzelt-Stiftung

Wirtschaft

Wirtschaft Ungleichgewichte als Triebkräfte der Evolution Im Interview mit dem QUERDENKER®-Club stellt der renommierte Zoologe Prof. Josef H. Reichholf „das Gleichgewicht der Natur“ in Frage Q: Unsere Welt wird immer schneller und komplexer. Wo findet das Individuum da künftig seinen Platz? keinen neuen Staat gründen. Sie ist eingebunden in ein sehr enges Netzwerk von Funktionen. Q: Sind somit Ungleichgewichte die Triebkräfte der natürlichen und auch der wirtschaftlichen Evolution? Reichholf: Dort, wo es immer war. Bei sich selbst und in seinem Wirkfeld. In der gegenwärtigen Umbruchsituation bestehen die größten Schwierigkeiten darin, die Vernetzung zu beherrschen. Die Menschen, mit denen man es zu tun hat, sind nicht mehr nur im persönlichen Bereich und im Umfeld der Arbeit vorhanden. Sie können sich irgendwo auf der Welt befinden. Sie verlieren so den Aspekt ihres persönlichen Daseins für die anderen, aber die Netzwerke gewinnen dafür an Reichweite und letztendlich an Passung. Es ist mit den modernen Kommunikationsmitteln viel leichter möglich, passende Arbeitsgruppen zusammenzustellen oder Beziehungen aufzubauen. Q: Können wir aus der Natur von Ameisenstaaten oder Fischschwärmen etwas lernen? Reichholf: Von diesen relativ wenig, denn das sind Zweckgemeinschaften, die im Falle der Ameisen sogar massiv chemisch kontrolliert werden. Hier ist es nicht der „große Bruder“, sondern die „große Mutter“, die Ameisenkönigin, die alles Geschehen überwacht und steuert. Auch wenn die einzelne Ameise ein bisschen Freiraum hat, sie kann sich nicht fortpflanzen und auch Der QUERDENKER®-Club ■ Der QUERDENKER-Club zählt mit über 150 000 Mitgliedern und Freunden inzwischen zu den größten Wirtschaftsvereinigungen für interdisziplinäre Entscheider und kreative Macher in Deutschland, Österreich und der Schweiz. ■ Er hat sich zum Ziel gesetzt, Impulsgeber, Regelbrecher, Mutmacher, Ideenzünder und Zukunftsmanager interdisziplinär und branchenübergreifend zu vernetzen. ■ Das QUERDENKER-Magazin und über 100 QUERDENKER-Veranstaltungen pro Jahr geben neue Impulse, um neue Ideen, Geschäftsmodelle und Zukunftsstrategien zu entwickeln. Mehr unter www.querdenker.de. Q: Bei einem Fischschwarm übernimmt jedoch immer wieder ein anderer die Führung. Ist das ein Zukunftsmodell? Reichholf: Nein. Das ist viel zu unverbindlich. Es kann der Schreckhafteste zum Anführer werden oder der Mutigste den ganzen Schwarm in die Falle locken. Im anonymen Schwarm gibt es zu wenig Steuerung. „Fuzzy Logic Systeme“ arbeiten besser, bleiben dabei aber doch zu unverbindlich. Unternehmen brauchen klare Vorgaben, um zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen. Die Forschung arbeitet intensiv daran, wie man Verkehrsflüsse gleichmäßiger fließend gestalten kann. Dies Wir haben eine Kultur entwickelt, in der praktisch jede Form von Verantwortung abgewälzt wird. spielt aber mehr für die Logistik des Warenverkehrs eine Rolle als für das Management oder das Funktionieren von größeren Einheiten. Das menschliche Gehirn und seine Funktionsweise ist dafür sicherlich das bessere Vorbild. Das Großhirn wirkt als Zentrale, aber die Schwerpunktfunktionen sind alle miteinander vernetzt. (Quelle: Suhrkamp) Reichholf: Absolut. Das wurde lange Zeit nicht gesehen oder missverstanden, weil wir zu sehr unter der Doktrin des Gleichgewichts standen. Für jeden Unternehmer ergäbe sich eine absurde Situation. Wenn er genauso viel produzieren sollte wie gebraucht wird und dadurch auch genauso hohe Kosten wie Erträge entstehen, dann ist ja jeglicher Anreiz für Weiterentwicklungen dahin. Das heißt, die Wirtschaft tendiert naturgemäß dahin, Ungleichgewichte aufzubauen, mehr oder verstärkt und verbessert zu produzieren. Gerade solche Firmen und Organisationen, die zu unflexibel geworden waren, hat die Wirtschaftskrise am stärksten getroffen. Q: Was hat die Krise in den Köpfen verändert? Reichholf: Die Betriebe werden wieder hierarchischer strukturiert werden und intern die Arbeitsabläufe und die Teilbereiche stärker vernetzen. Derzeit sind die einzelnen Funktionen zu stark voneinander getrennt. Oft korrespondiert nur eine Ebene mit einer anderen. Entscheidungen haben lange Wege, sodass sie oft gar nicht mehr zeitgerecht gefällt werden. Benötigt werden kurze Wege und Verantwortung. Q: Sind Hierarchien nicht kontraproduktiv bei Kreativitätsprozessen? Reichholf: Nein, denn es geht um das passende Maß. Darum geht es auch im zunächst widersinnig erscheinenden Begriff der „Stabilen Ungleichgewichte“. Wir brauchen diese Ungleichgewichte. Sie dürfen nur nicht zu groß oder zu klein werden. Wenn wir dieses Modell auf die Abläufe in Firmen übertragen, heißt 36 P.T. MAGAZIN 1/2011

(Foto: ICCOM) Prof. Dr. Josef H. Reichholf das, dass wir die kreative Kooperation von relativ selbstständigen Untereinheiten brauchen, aber genauso die Steuerung von oben, die die jeweiligen Spannungen aufbauen muss, damit ein adäquates Ergebnis zustande kommt. Ist nicht genügend Druck von oben vorhanden und wird der Kreativität zu viel Raum gelassen, dauert es zu lange, bis ein gutes Ergebnis erzielt wird. Endlose Sitzungen zerstören die Kreativität genauso wie diktatorische Festlegungen. Ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie viel Spannung bzw. Freiheit sein muss, damit das System gut genug funktioniert, stellt eine hohe Kunst dar. Wir müssen von der Vorstellung vom Gleichgewicht wegkommen, weil dabei zu viel in Untätigkeit erstarrt. Gute Hierarchien beschleunigen die Abläufe und fördern Kreativität. Q: Somit müssen Unternehmen künftig gezielt diese Spannung suchen? Reichholf: Spannung zu suchen, liegt in der Natur des Menschen. Das Unbehagen, das sich breit gemacht hat, weil die Gleichmacherei viel zu weit gediehen ist, äußert sich im Bedürfnis nach neuen Spannungen. Undifferenziert zunächst, denn erst mit Kommunikation kann man zu neuen Lösungen kommen. Q: Brauchen wir künftig eine Fehlerkultur, um mutiger zu sein? Reichholf: Ja. Fehler sind normal und nötig. Was Sie vornehm als Fehlerkultur bezeichnen, ist das alte Prinzip von Versuch und Irrtum. Dass man sich irren kann, weiß doch jeder. Es ist unerträglich, wenn Repräsentanten des Staates und Menschen, die Führungspositionen innehaben, so tun, als ob sie sich nicht irren könnten. Also delegieren sie ihre Fragen und Probleme an Computerszenarien, die mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden. Der gesunde Menschenverstand wird ausgeschaltet. Wir haben eine Kultur entwickelt, in der praktisch jede Form von Verantwortung abgewälzt wird. Deshalb „darf“ sich ja eigentlich bei uns gar nichts verändern, denn jede Veränderung hat zwangsläufig Folgen. Nur jede Menge Fehler bringen das Leben weiter. Q: Gewinnt Nachhaltigkeit eine neue Dimension? Reichholf: Werden z. B. Wälder von Borkenkäfern gefressen, müsste man als Naturschützer, der einen Urwald anstrebt, sagen: Wunderbar, sie sind unsere besten Verbündeten! Sie vernichten die Holzplantagen, und es wird sich von selbst standortgerecht ein Wald entwickeln, der irgendwann einmal, wenn er alt genug geworden ist, „Urwald“ genannt werden kann. Nachhaltigkeit soll hingegen verhindern, dass solche Nutzungssysteme vorzeitig zusammenbrechen. Insofern ist „nachhaltig“ generell mit Zielen verbunden. Doch diese Ziele sind immer wieder zu hinterfragen und in Die größte Nachhaltigkeit ist mit den geringsten Erträgen verbunden. Ein ausgewachsener Urwald liefert weder Sauerstoff noch bindet er Kohlendioxid. angemessenen Abständen auch neu zu definieren. Die größte Nachhaltigkeit ist mit den geringsten Erträgen verbunden. Ein ausgewachsener Urwald liefert weder Sauerstoff noch bindet er Kohlen dioxid. Das ist nur in (stark) wachsenden Wäldern so. Q: Das heißt, wir müssen ständig auf Überraschungen reagieren? Reichholf: Ganz genau. Wir sollten die Flexibilität wiedererlangen, die uns weithin durch viel zu viele Vorschriften und Vorgaben genommen worden ist. Eine Flexibilität, die es uns ermöglicht, schnell genug auf neue Herausforderungen zu reagieren. Denn aus der Natur lernen wir auch, dass die Zukunft offen ist. ■ 1/2011 P.T. MAGAZIN 37

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