Gesellschaft Ein schwerfälliges Verfahren Die parlamentarische Arbeitsweise muss besser erklärt werden Debatten vor nahezu leeren Bänken. Fehlende Abgeordnete bei wichtigen Abstimmungen. Parteipolitische Vorgaben statt freier Gewissensentscheidung. Bei solchen Eindrücken aus dem parlamentarischen Alltag heißt es schnell, die Abgeordneten seien unfähig und faul, sie würden nur abnicken und durchwinken, was ihnen vorgesetzt wird. Obwohl ebenso platt wie falsch, prägen solche Vorurteile die öffentliche Meinung. Gegen diese Mixtur aus Unkenntnis und Anmaßung müssen wir Parlamentarier uns selbstbewusst wehren aber zugleich unsere Arbeitsweise deutlich besser darstellen und erklären. Ein modernes Arbeitsparlament funktioniert anders Auch wenn es ohne Sitzfleisch nicht geht - Kompetenz und Fleiß der Abgeordneten lassen sich nicht anhand leerer Sitze messen. Im Gegenteil: Würde das Parlament von morgens bis abends stets in voller Besetzung debattieren, käme die Gesetzgebung schnell zum Erliegen. Nicht mehr, sondern weniger würde beraten und entschieden. Winston Churchill soll gesagt haben: „Am faulsten sind die Parlamente, die am stärksten besetzt sind.“ Der Nationale Volkskongress der Volksrepublik China entspricht dem Wunschbild eines vollbesetzten Plenums. Ein modernes Arbeitsparlament Die wesentliche Arbeit des Parlamentarismus geschieht in den „Werkstätten“, den Arbeitsausschüssen und dort wird auch bereits entschieden 10 P.T. MAGAZIN 4/2013 (Foto: Lichtblick/Achim Melde) (Foto: Deutscher Bundestag/Marc-Steffen Unger) in einer Demokratie funktioniert anders. Der Deutsche Bundestag ist hochgradig arbeitsteilig organisiert. Anders könnte er seine vielfältigen Aufgaben, die weit über die eigentliche Gesetzgebungsarbeit hinausgehen, gar nicht bewältigen. Das Plenum ist die „gute Stube“ des Parlamentarismus, die wesentliche Arbeit geschieht aber in den „Werkstätten“ und in der Regel wird dort auch bereits entschieden. Wenn schließlich im Plenum des Bundestages vor den Augen der Fernsehkameras öffentlich debattiert und abgestimmt wird, sind die Positionen meist schon festgelegt und die Entscheidungen getroffen. Dieser Vorlauf bleibt in der öffentlichen Bewertung und Berichterstattung weitgehend unbeachtet. So entsteht zwangsläufig ein schiefes Bild. Entgegen weit verbreiteten Vorstellungen dient die Plenardebatte weniger dazu, den politischen Gegner zu überzeugen als vielmehr die unterschiedlichen Argumente und Bewertungen in die Öffentlichkeit zu transportieren. Deshalb lässt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages es auch zu, dass im Normalfall relativ wenig Abgeordnete an einer Plenumsdebatte teilnehmen. Intern Spezialist, nach außen Generalist Ein Parlament ist keine Ansammlung von Einzelkämpfern. Parlamentarische Arbeit kann nur in der Gemeinschaft politisch gleichgesinnter, nach Fraktionen formierter und nach Fach- und Sachwissen spezialisierter Parlamentsmitglieder sinnvoll erledigt werden – also in einer besonderen Form spezifischer Teamarbeit. Niemand ist in der Lage, sich pro Wahlperiode mit ca. 1.000 Gesetzentwürfen, über 3.000 kleinen und großen Anfragen und etwa 2.000 Anträgen zu den unterschiedlichsten Themen zu befassen. Deshalb werden die Arbeitsfelder aufgeteilt. Der Abgeordnete ist intern Spezialist, nach außen hin aber Generalist. In Berlin wird er für die Kollegen, die Fach- und Medienöffentlichkeit der sachkundige Experte. In seinem Wahlkreis und für sein Bundesland bleibt er aber der Ansprechpartner für alles und jedes. Dieser Spagat lässt sich nur mit wechselseitiger Hilfe bewältigen. Und dafür braucht es ein Mindestmaß an Vertrauen in die Kompetenz, Integrität und Verlässlichkeit der Fraktionskollegen. Langes Wochenende ohne Freizeit Wenn im Plenum die Fachpolitiker sprechen, haben sie sich zuvor in den Ausschüssen des Bundestages und den Arbeitsgruppen der Fraktionen eingehend, nicht selten monatelang, mit einem Thema beschäftigt. Sie haben in den Fraktionsvollversammlungen allen Kolleginnen und Kollegen hierzu Rede und Antwort gestanden. Währenddessen kümmern sich die übrigen Abgeordneten um andere Themen. Das kann im Büro sein, in Arbeitstreffen mit Sachverständigen aus Wirtschaft, Wissenschaft oder Gesellschaft, im Gespräch mit Kollegen oder mit Interessensvertretern. Hat ein Politiker noch zusätzliche Führungsaufgaben in den Gremien der Fraktion oder Partei, ist während der Sitzungswochen sein Terminkalender von Montag bis Freitag dicht gefüllt. Wenn er am Freitag Berlin verlässt, hat er zwar ein langes Wochenende vor sich, aber keineswegs Freizeit. Als Festredner bei Veranstaltungen und Jubiläen, bei Begegnungen und Besichtigungen vor Ort steht er seinem Wahlkreis oder Landesverband zur Verfügung. Wenn man dieses Arbeitspensum in einen Stundenlohn umrechnet, relativiert sich 30,1 LInke 20,1 SPD die angeblich so üppige Bezahlung der Parlamentarier deutlich. Bei 60 bis 70 Arbeitsstunden pro Woche ergibt sich dann ein Stundenlohn in der Größenordnung eines Facharbeiters in der Automobilbranche. Mühselig und wenig populär Da ein Großteil der parlamentarischen Arbeit unterhalb der öffentlichen Wahrnehmung abläuft, ist das Bild nach außen oft lückenhaft. Das gilt besonders für die Rolle der Fraktionen, die eine Schlüsselstellung haben, wenn es darum geht, die Repräsentationsfunktion des Parlaments zu erfüllen. Die Fraktionen wirken hier als organisatorische Klammer. Grundsätzlich soll jeder einzelne Abgeordneten an der politischen Willensbildung zu allen anstehenden Themen mitwirken. In seiner Fraktion kann er auch die großen Linien der Politik beeinflussen und seiner Aufgabe gerecht werden, den Wählerwillen über die ganze Bandbreite politischer Themen zu vertreten. Entsprechend kontrovers wird mitunter diskutiert. Das ist intern häufig mühselig und nach außen wenig populär. Aber es ist wertvoll, denn der politische Streit beflügelt das Auffinden der besten Lösungen. Es würde sich lohnen, intensiv darüber nachzudenken, in welchem Umfang in einem formalisierten Verfahren auch die Diskussionen in den Fraktionsgremien öffentlich abgebildet werden könnten. Zu überlegen wäre auch, die Fach-Ausschüsse des Bundestages stärker für die Öffentlich- 12,8 Grüne Linke Schwänzer Versäumte Abstimmungen pro Abgeordneten nach Parteien 11,3 FDP keit zu öffnen, indem man das bisherige Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt und Ausschusssitzungen grundsätzlich öffentlich durchführt. Diffamierung und platte Polemiken Mehr Transparenz kann Vorurteilen den Nährboden entziehen. Wir müssen die komplexen und vielfältigen Entscheidungsprozesse lebendig und lebensnah vermitteln. Hier sind erhebliche Verbesserungen möglich. Das gilt für den Deutschen Bundestag als Organ wie für jeden Abgeordneten persönlich. Ansehen und Reputation des Hauses dürfen im politischen Streit nicht leiden. Persönliche Diffamierungen müssen tabu sein. Und schließlich sind die Parlamentskorrespondenten und Berichterstatter der Medien gefordert. Sie lassen sich allzu häufig zu platten Polemiken hinreißen, auch wenn sie es besser wissen oder zumindest wissen sollten. n Hermann Otto Solms Über den Autor 10,8 CDU/CSU n Dr. Hermann Otto Prinz zu Solms- Hohensolms-Lich ist ein deutscher Politiker der FDP. Er war von 1991 bis 1998 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion und ist seit 1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages. (Foto: Dr. Hermann Otto Solms) 4/2013 P.T. MAGAZIN 11 (Grafik: Focus/Statista 2013)
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