Aufrufe
vor 9 Jahren

P.T. MAGAZIN 01/2014

  • Text
  • Unternehmen
  • Magazin
  • Deutsche
  • Deutschen
  • Deutschland
  • Mittelstand
  • Wirtschaft
  • Millionen
  • Region
  • Welt
Magazin für Wirtschaft und Gesellschaft. Offizielles Informationsmagazin des Wettbewerbs "Großer Preis des Mittelstandes" der Oskar-Patzelt-Stiftung

Der absurdeste Prozess

Der absurdeste Prozess der Neuzeit Christian Wulff, Julia Timoschenko und Diekmann von der Bild Gesellschaft 6 Modernes Präsidentenpaar: Christian und Bettina Wulff im August 2010. Einen Monat zuvor wurde Wulff mit 625 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Einer der absurdesten Prozesse der Neuzeit hat begonnen. Am Landgericht Hannover muss Christian Wulff, ehemaliges Staatsoberhaupt, auf die Anklagebank wie sonst Bankräuber und Vergewaltiger. Es geht um den Vorwurf der „Käuflichkeit“. Käuflichkeit ist etwas Negatives für Staatsdiener. Es geht jedoch nicht um Billionen wie bei der Inflationspolitik der Europäischen Zentralbank. Es geht nicht um Milliarden wie bei der nach wir vor ausgedehnten Staatsverschuldung der westeuropäischen Länder zu Lasten unserer Kinder (Foto: Wikimedia/Franz Richter/CC 3.0) und Kindeskinder. Es geht nicht um Millionen wie bei vielen Beispielen der Steuerverschwendung, die der Steuerzahlerbund jährlich in seinem Schwarzbuch listet und für die bisher noch nie jemand verurteilt wurde. Wegen fünf Millionen Euro angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder wurde der 79-jährige ehemalige französische Präsident Jacques Chirac Ende 2011 zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt, obwohl sogar die Staatsanwaltschaft letztlich Freispruch gefordert hatte. Parallel witterten Staatsanwälte in Deutschland die Gelegenheit, mit ähnlichen Jahrhundertprozessen in die Geschichtsbücher einzugehen. Doch es geht nicht um Millionen. Es geht nicht mal um Tausende. Es geht nur um einen Betrag von 719,40 Euro. Das ist die Summe aus Hotel- und Kinderbetreuungskosten in Höhe von 510 Euro und einem gemeinsamen Abendessen für 209,40 Euro. Niemandem ist irgendein tatsächlicher Schaden entstanden. Wulff wird vorgeworfen, er habe sich in einem Brief an den Konzern Siemens für die Förderung eines geplanten Groenewold-Filmes eingesetzt. „Der Vorwurf empört mich außerordentlich.“ sagte Wulff heute im Gericht. Er habe das getan, weil ihm das Thema sehr am Herzen gelegen habe. Zudem sei der Brief an Siemens nicht von ihm persönlich erstellt worden. „Ich habe Tausende solcher Briefe in meiner Zeit als Ministerpräsident verschickt.“ Natürlich, nicht nur er. Soll das künftig wirklich strafbar sein? Das hatten wir schon mal. In beiden Diktaturen des letzten Jahrhunderts genügte es, der Freundschaft zur falschen Person verdächtig zu sein, um selbst zur persona non grata zu werden. Amtsmissbrauch im großen Stil Da hat die ukrainische ehemalige Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die in Westeuropa gern als „Oppositionelle“ bezeichnet wird, seit sie im Gefängnis sitzt, etwas anderes zu bieten: Ihr wird Amtsmissbrauch zum Schaden der Ukraine vorgeworfen: 2009 schloss sie mit Russland Verträge über die Lieferung von Erdgas zum Nachteil der Ukraine. Schadenssumme: Nicht 719,40 Euro, sondern rund 137 Millionen Euro. Als Chefin des Energiekonzerns EESU (1995 bis 1997) soll sie Veruntreuung begangen haben. Allerdings nicht über 719.40 Euro, sondern über 295 Millionen Euro. Auch Steuerhinterziehung in Größenordnungen wird Timoschenko vorgeworfen , dass Uli Hoeneß im Vergleich wie ein kleiner Trickbetrüger wirkt. Auch Geldwäsche gehört zu den Vorwürfen, deretwegen die „Oppositio- P.T. MAGAZIN 1/2014

P.T. MAGAZIN 1/2014 (Foto: European People's Party/flickr.com) Seit August 2011 befindet sich Julia Timoschenko in Haft – verurteilt wegen Amtsmissbrauchs. nelle“ sitzt. In Deutschland klingt Opposition irgendwie nach Castor-Protest und Friedensdemo. Mit der Opposition in der Ukraine hat das nichts zu tun. Dort landete Timoschenko sogar als damalige Spitzenpolitikerin im Dezember 2004 auf der Suchliste von Interpol, weil in Russland ein Verfahren gegen sie wegen Bestechung von Militärs lief. Weil reich nicht gleich reich ist „Ich mag die Reichen nicht“ sagte der französische Staatschef François Hollande, als er den Filmstar Gérard Depardieu mit überhöhten Steuerforderungen aus dem Land trieb. Im Vergleich zu Depardieu, der sein Vermögen redlich über ein ganzes Filmleben lang verdient hat, ist die „verfolgte“ Timoschenko ein anderes Kaliber: Sie und ihre Familie gehören zu den klaren Gewinnern des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Innerhalb weniger Jahre sammelte sie vor allem als Chefin des Energiekonzerns EESU (Vereinte Energiesysteme der Ukraine) ein Vermögen von mehreren hundert Millionen Euro an. Nochmal langsam: mehrere hundert Millionen. Mit Arbeit kann man das nicht verdienen. Es gibt im entwickelten Deutschland auch keinen Unternehmer, der es innerhalb eines einzigen Jahrzehnts auf ein Privatvermögen von mehreren hundert Millionen Euro gebracht hätte. Da haben „Die 500 reichsten Deutschen“, die das Manager Magazin jährlich listet, meist mehrere Generationen dafür gebraucht. Im Verhältnis zur Staroppositionellen Timoschenko war Christian Wulff zeitlebens einfach ein armer Hund. Als der Ministerpräsident seiner jungen zweiten Frau wenigstens ein kleines Häuschen bieten wollte, konnte er es nicht bezahlen. Er musste sich Geld leihen. Das vermutete und berichtete die Bild-Zeitung im Jahr 2011. Wulff dementierte und brachte damit den Stein ins Rollen. Im Verlauf der ungeschickten Verteidigung verlor er alles: Amt, Job, Frau, Reputation, Vermögen, Würde. (Foto: Bild-Cover 14.11.2013, © Bild) Bild-Chefredakteur Kai Diekmann: „Justiz muss rein juristisch denken“ Unangemessen und übertrieben Dieser Tage schreibt sogar „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann, dass er den Prozess gegen Christian Wulff für falsch hält. Die Kleinlichkeit und Verbissenheit der Staatsanwälte ist angstgeschürt. Sie haben Angst, dass sie den Rücktritt Wulffs vom Amt des Präsidenten mit Ermittlungen ausgelöst haben, die sich als lächerlich herausstellen. „Die Justiz hat politisch gedacht und gehandelt - sie hätte rein juristisch denken und das Verfahren irgendwann abblasen müssen.“ schreibt Diekmann. Ich stimme dem „Bild“-Chefredakteur gern zu: 22 Verhandlungstage für einen Fall von rund 700 Euro sind völlig unangemessen und übertrieben: Kein anderer Bürger wäre solange vor Gericht gezerrt worden. Keiner außer einem, der sich vermutlich nicht genug wehren kann, weil schon längst genug bestraft wurde. Vom Leben. Er hinterlässt zwar etwas, das keinem seiner Vorgänger als Bundespräsident glückte. Weizsäcker, Herzog oder Gauck waren bzw. sind wortgewaltiger als Wulff. An Wortneubildungen im Zusammenhang mit diesen Namen erinnert sich die Öffentlichkeit nicht. Aber „Wulffen“ schaffte es auf Platz vier als „Jugendwort des Jahres“ 2012. Eine sechsköpfige Jury des Langenscheidt-Verlags wählte dieses im Internet häufig benutzte Wort unter 40.000 Einsendungen. Die Anspielung auf den Ex-Bundespräsident bedeutet wahlweise „jemandem die Mailbox vollquatschen“ oder auch „auf Kosten anderer leben“. Die Rechnung begleichen? Und es ist eigentlich noch schlimmer: Für den Wulff-Prozess sind 22 Prozesstage angesetzt. 45 Zeugen sollen gehört werden. Wer hat die Staatsanwälte und Richter in Hannover eigentlich ermächtigt, ihre teure Zeit mit Kokolores zuzubringen? Der Prozess selbst ist auf 22 Tage angesetzt. Rund 200 Ermittlungstage in den letzten beiden Jahren kommen hinzu. Die Gesamtkosten des Verfahrens dürften am Ende also 100.000 Euro weit überschreiten. Damit die bei 42 Prozent Einkommenssteuer ins Staatssäckel wandern, muss ein eingetragener Kaufmann 238.000 Euro Gewinn machen. Bei durchschnittlich 5,7 Prozent Umsatzrendite im Jahr 2012 sind dafür fast 4,2 Millionen Euro Umsatz nötig. Aber: 3,45 der 3,65 Millionen Unternehmen, die beim Statistischen Bundesamt im Mai 2013 erfasst waren, schafften nicht mal zwei Millionen Euro Umsatz. Wird die Staatsknete bei diesem Prozess nicht viel leichtfertiger verschwendet als es die Staatsanwälte dem Angeklagten vorwerfen? Wer veruntreut hier tatsächlich Steuergelder? n Dr. Helfried Schmidt

Jahrgänge